Die abgearbeiteten Hände
einer alten Obergommer Frau
ca. 1950, Archiv Werner Werlen (Hier nur Bildausschnitt).
 
                                                                                                                                    
  Verfolgung  
              

Wer um 1950 in einer Obergommer Bauernfamilie lebte, kannte noch eine Welt, deren Alltag sich nicht viel von dem seiner Vorfahren in früheren Jahrhunderten unterschied:

 
 

Die meisten waren Bergbauern. Motorlosigkeit. Geackert und gemäht wurde von Hand. Kühe zogen die Heuwagen.

 
 

Einfache Wohnverhältnisse. Kein Telefon. Kein Badezimmer. Klosett und Kinderzimmer waren auch im Winter ungeheizt.

 
 

Geboren und gestorben wurde zuhause. Grosse Familien. Kinderarbeit (deshalb Schule nur von Oktober bis April). Ferien oder ein freier Samstag waren unbekannt.

 
 

Tiefe Religiosität. Sittenstrenge. Respekt und Gehorsam. Pfarrer und Lehrer waren Autoritäten.

 

Die im Alltag genutzten Errungenschaften des 20. Jh. waren das elektrische Licht, ein Radio im Wohnzimmer, fliessendes Wasser in der Küche. Gegenüber früheren Jahrhunderten besser waren sicher auch das Schulwesen, die Krankenversorgung und die Reisemöglichkeit mit der Eisenbahn. Warum die meisten, die diese Welt noch kannten, diese in überwiegend guter Erinnerung haben (so auch der Schreibende), ist hier nicht das Thema. Thema ist, dass wer diese Welt noch kannte, auch noch in der heutigen Zeit gut verstehen kann, was seine Vorfahren beschäftigte, wie sie handelten. Es gibt aber eine Seite im Leben und Handeln seiner Vorfahren, die wahrscheinlich auch ihm unverständlich bleibt:
 

 


Verfolgung, Folter und Hinrichtung der Hexen! Fast alle alten Obergommer Familien hatten Angehörige, die als Täter oder Opfer beteiligt waren.  


Prozessorte waren Münster, Biel, und Ernen. Dort wurden Verdächtige auch eingesperrt und gefoltert. Vor 1455 wurde an den genannten Orten auch hingerichtet, dann war aber nur noch ein Hügel östlich von Ernen Hinrichtungsort. Oberste Autorität war im Goms der Zendenmeier und in Biel der Ammann der Grafschaft. Der Zendenmeier, der Ammann, aber auch ein Notar oder eine andere zum Richter gewählte Person, leitete in der Regel als eine Art Oberkommissar die Voruntersuchung, ordnete die Verhaftung an und war im Prozess Staatsanwalt, Verteidiger und Gerichtsvorsteher in einer Person. Ihm zur Seite stand ein Notar als Gerichtsschreiber und oft zahlreiche "Volksvertreter" (Deputatos). Sie waren eine Mischung aus Beisitzer und Geschworenen. Da sie am Prozessende über schuldig oder nicht schuldig entschieden, nachfolgend von mir Geschworene genannt.
Bitte beachten: Wenn im Weiteren vom Zendenmeier die Rede ist, gilt das analog auch für andere, die als Richter amteten. Einige Rechtsverhältnisse, Abläufe und Zustände werden in der Folge auch vereinfacht dargestellt oder trafen so nicht immer zu. Es wird auch nicht weiter darauf eingegangen, dass das heute ausgestorbene Dorf Geren (bei Oberwald) eine eigene Hinrichtungsstätte besass und im Turnus der Gerichtsbarkeit der Burgschaften Brig, Visp und Bürchen unterstand oder dass der Ammann der Grafschaft im Verlaufe des 18. Jh. Kompetenzen an den Zendemeier abgeben musste. Alle Todesurteile wurden im alten Wallis vor der Vollstreckung noch dem Bischof vorgelegt, der das Urteil aufheben konnte.
Nachtrag Dez. 2020: Im 15. Jh. und davor kam es auch vor, dass der Bischof in den Prozess eingriff oder einen Prozess anordnete, dies nicht als Bischof. sondern als oberster Landesherr. Ebenfalls kam es vor, dass die Burgschaft von Sitten ein Urteil genehmigen musste und Angeklagte in Sitten eingekerkert und verurteilt wurden. Quelle: Beihefte Vallesia 220 von Chantal-Amman-Doubliez, siehe auch Literaturhinweise.


Im Prozess wurde noch kein Urteil gesprochen, sondern nur die Schuldfrage geklärt. Meistens mit Hilfe der Folter. Erfolgte kein Freispruch, wurde die Seele der schuldigen Person "Gott befohlen und der Leib zur Urteilssprechung dem Zendenmeier übergeben", der dann auch die Vollstreckung organisierte. In der Regel, ging ein Drittel des Vermögens der verurteilten Person an allfällige Erben, ein Drittel an die Bürgergemeinde und ein Drittel erhielt der Zendenmeier. Er trug die Kosten des Verfahrens und war für die Verköstigung der Beteiligten verantwortlich. Speisen, Weine und das Holz für den Scheiterhaufen wurden üblicherweise den Vorräten der Familie des Verurteilten entnommen.

Wie ein typischer Hexenprozess im Einzelnen ablief illustriert ein Protokoll aus dem Jahre 1576. Zum besseren Verständnis habe ich den Text in heute übliche Formulierungen umgesetzt. Ferner habe ich den im Protokoll erwähnten Personen einen anderen, ortsüblichen Familiennamen gegeben, so dass sie nicht identifiziert werden können (Zendenmeier, Notar und die Hälfte der Geschworenen waren Obergommer).

 

 
 

 
Protokoll "Prozess Margaretha Ithen"
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Wegen des Lasters der Hexerei wurde Margaretha Ithen auf Anordnung des weisen Zendenmeiers Hans Tscheinen in Gewahrsam genommen.

Eingesperrt wurde sie in Ernen.
Einheimische wurden vor 1750 oft nicht an ihrem Wohnort eingesperrt und prozessiert (Wegen dem Risiko, dass Angehörige oder Anhänger der Eingesperrten eingriffen). 1750-1762 bauten die Ober- und Unergommer in Ernen ein gemeinsames Gerichtshaus. Im Erdgeschoss befanden sich die Folterkammer und die Zellen der Untersuchungsgefangenen, im ersten Stock der Gerichtssaal. Das Gebäude wurde 1900 teilweise in eine Käserei umgebaut, 1953 renoviert und dient seither als Gemeindehaus von Ernen. Heute wird es auch Tellenhaus oder fälschlich Zendenratshaus genannt.
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I. Prozesstag
Dienstag, 14. Februar 1576. Auf Anordnung des Zendenmeiers und der Geschworenen wird Margaretha Ithen an den auf ihren Rücken gebunden Händen über eine Seilrolle hochgezogen und befragt. Trotz zweimaliger Wiederholung des Vorgangs weigerte sie sich die Wahrheit zu sagen. So geschehen in Anwesenheit des Zendenmeiers und der ehrsamen und weisen Männer Martin Imarnen, Melchior Zeiter, Mathäus Werlen, Hans Imsand, Peter Bacher, Simon Gertschen, Martin Kämpfen, Moritz Jost, Martin Jergen, Hans Blatter und des Notars Martin Taffiner.

Angewandt wurde die so genannte Aufzieh-Folter. Bei dieser Folter hängt das Opfer an den rückwärts hochgezogenen Armen frei in der Luft. Oft blieb das Opfer während der Mittagspause des Gerichts aufgehängt, wenn es nicht vorher seine Schuld zugab.

2. Prozesstag
Mittwoch, den 15. Februar 1576. Dreimalige Aufziehung und Befragung. Wieder weigert sie sich die Wahrheit zu sagen, obwohl man, während sie an den rückwärts hochgezogenen Armen in der Luft hängt, sie öfters ruckartig auf und abschnellt. So geschehen auf Anordnung des Zendenmeiers und ohne Anwesenheit der Geschworenen.

3. Prozesstag, 1. Teil
Donnerstag, den 16. Februar 1576. Anwesende gleich wie am ersten Prozesstag. Auf Anordung des Zendenmeiers und der Geschworene wird sie in einer Wanne gefoltert und gesteht ihre Taten. Zudem nennt sie Cäcilia Bittel und Klara Inderbinen als Mitschuldige.

Bei der Wannen-Folter wird das Opfer in eine Kiste gelegt und um den Bauch festgebunden, wobei Hände und Füsse aus Öffnungen aus der Kiste ragten. Die Grösse der Kiste konnte mit Schrauben verändert werden. Bei dieser Folter konnte man das Opfer durch Zusammenpressen der Kistenwände erdrücken. Es war aber auch möglich ihm Hände und Füsse abzureissen. Bei dieser Variante wurden Hände und Füsse mit Seilwinden verbunden. Für den der nicht gestand, konnten beide Varianten mit schweren Verletzungen oder tödlich enden. Gemäss Protokoll gestand Margaretha Ithen, nachdem man ihr Hände und Füsse "suess" (leicht) gespannt hatte.
In der Folterkammer des Zendengerichtshauses wurde die Wannenfolter wahrscheinlich nie angewandet. Das Gebäude wurde erst 1762 fertig gestellt. Zu diesem Zeitpunkt beschränkte man sich bereits auf "sanftere" Methoden, wie Aufhängung, Daumenschrauben und Auspeitschung. Wo vor dem Bau des Zendengerichtshauses Verdächtige eingesperrt und gefoltert wurden ist unbekannt. Wahrscheinlich gab es dafür keine speziell gebauten Räumlichkeiten.

3. Prozesstag, 2. Teil und Schluss
Margaretha Ithen wird vom Notar das inzwischen aufgeschriebene Geständnis vorgelesen. Sie weigert sich das Geschriebene zu bestätigen. Deshalb wird sie auf Anordnung des Zendenmeiers nochmals gefoltert.

Dem Protokoll ist zu entnehmen, dass sie an den auf den Rücken gefesselten Händen wieder über eine Seilrolle hochgezogen wurde. Diesmal aber mit einem angehängten, grösseren Stein. Bei dieser Variante der Aufziehfolter, werden die Arme aus den Schultergelenken gerissen (daran erkennbar, dass dem in der Luft hängenden Opfer, die rückwärts hochgezogenen Arme senkrecht stehen).

Margaretha Iten bestätigt jetzt, dass alles was aufgeschrieben wurde, Wort für Wort richtig ist.


Das Geschworenen erklären sie für schuldig und ermächtigen den Zendenmeier ein Urteil zu fällen. Ferner bestätigen die Geschworenen die Mitschuld der Cäcilia Bittel und Clara Inderbinen.
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Geschrieben am Donnerstag, den 16. Februar 1557
im Aufrag des Zendenmeiers (De mandato praefeti Majoris)
durch Martin Taffiner
Notarius publicus.
 
 

 
 
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Das Geständnis der Margaretha Ithen. Beachten Sie, dass ich auch hier den Originaltext in heute üblichen Formulierungen übertragen habe. Zudem habe ich darauf verzichtet, ihre Aussagen betr. der Mitschuldigen auch zu erwähnen.

 
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