Die
im Alltag genutzten Errungenschaften des 20. Jh. waren das elektrische
Licht, ein Radio im Wohnzimmer, fliessendes Wasser in der Küche.
Gegenüber früheren Jahrhunderten besser waren sicher auch
das Schulwesen, die Krankenversorgung und die
Reisemöglichkeit
mit der Eisenbahn. Warum die meisten, die diese Welt noch kannten,
diese in überwiegend guter Erinnerung haben (so auch der Schreibende),
ist hier nicht das Thema. Thema ist, dass wer diese Welt noch kannte,
auch noch in der heutigen Zeit gut verstehen kann,
was seine Vorfahren beschäftigte, wie sie handelten. Es gibt
aber eine Seite im Leben und Handeln seiner Vorfahren,
die
wahrscheinlich auch ihm unverständlich bleibt:
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Prozessorte waren Münster, Biel, und Ernen. Dort wurden Verdächtige
auch eingesperrt und gefoltert. Vor 1455 wurde an den genannten Orten
auch hingerichtet, dann war aber nur noch ein Hügel östlich
von Ernen Hinrichtungsort. Oberste Autorität war im Goms der Zendenmeier
und in Biel der Ammann der Grafschaft. Der Zendenmeier, der Ammann,
aber auch ein Notar oder eine andere zum Richter gewählte Person,
leitete in der Regel als eine Art Oberkommissar die Voruntersuchung,
ordnete die Verhaftung an und war im Prozess Staatsanwalt, Verteidiger
und Gerichtsvorsteher in einer Person. Ihm zur Seite stand ein Notar
als Gerichtsschreiber und oft zahlreiche "Volksvertreter"
(Deputatos). Sie waren eine Mischung aus Beisitzer und Geschworenen.
Da sie am Prozessende über schuldig oder nicht schuldig entschieden,
nachfolgend von mir Geschworene genannt.
Bitte beachten: Wenn im Weiteren vom Zendenmeier
die Rede ist, gilt das analog auch für andere, die als Richter
amteten. Einige Rechtsverhältnisse, Abläufe und Zustände
werden in der Folge auch vereinfacht dargestellt oder trafen so nicht
immer zu. Es wird auch nicht weiter darauf eingegangen, dass das heute
ausgestorbene Dorf Geren (bei Oberwald) eine eigene Hinrichtungsstätte
besass und im Turnus der Gerichtsbarkeit der Burgschaften Brig, Visp
und Bürchen unterstand oder dass der Ammann der Grafschaft im Verlaufe
des 18. Jh. Kompetenzen an den Zendemeier abgeben musste. Alle Todesurteile
wurden im alten Wallis vor der Vollstreckung noch dem Bischof vorgelegt,
der das Urteil aufheben konnte.
Nachtrag Dez. 2020: Im 15. Jh. und davor kam es auch vor, dass der Bischof
in den Prozess eingriff oder einen Prozess anordnete, dies nicht als
Bischof. sondern als oberster Landesherr. Ebenfalls kam es vor, dass
die Burgschaft von Sitten ein Urteil genehmigen musste und Angeklagte
in Sitten eingekerkert und verurteilt wurden. Quelle: Beihefte Vallesia
220 von Chantal-Amman-Doubliez, siehe auch Literaturhinweise.
Im Prozess wurde noch kein Urteil gesprochen,
sondern nur die Schuldfrage geklärt. Meistens mit Hilfe der Folter.
Erfolgte kein Freispruch, wurde die Seele der schuldigen Person "Gott
befohlen und der Leib zur Urteilssprechung dem Zendenmeier übergeben",
der dann auch die Vollstreckung organisierte. In der Regel, ging ein
Drittel des Vermögens der verurteilten Person an allfällige
Erben, ein Drittel an die Bürgergemeinde und ein Drittel erhielt
der Zendenmeier. Er trug die Kosten des Verfahrens und war für
die Verköstigung der Beteiligten verantwortlich. Speisen, Weine
und das Holz für den Scheiterhaufen wurden üblicherweise den
Vorräten der Familie des Verurteilten entnommen.
Wie ein typischer Hexenprozess im Einzelnen ablief illustriert ein Protokoll
aus dem Jahre 1576. Zum besseren Verständnis habe ich den Text
in heute übliche Formulierungen umgesetzt. Ferner habe ich den
im Protokoll erwähnten Personen einen anderen, ortsüblichen
Familiennamen gegeben, so dass sie nicht identifiziert werden können
(Zendenmeier, Notar und die Hälfte der Geschworenen waren Obergommer).
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Protokoll "Prozess Margaretha Ithen"
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Wegen des Lasters der Hexerei wurde
Margaretha Ithen auf Anordnung des weisen Zendenmeiers Hans Tscheinen
in Gewahrsam genommen.
Eingesperrt wurde sie
in Ernen.
Einheimische wurden vor 1750 oft nicht
an ihrem Wohnort eingesperrt und prozessiert (Wegen dem Risiko,
dass Angehörige oder Anhänger der Eingesperrten eingriffen).
1750-1762 bauten
die Ober- und
Unergommer
in Ernen ein gemeinsames Gerichtshaus.
Im Erdgeschoss
befanden
sich
die Folterkammer und
die
Zellen
der Untersuchungsgefangenen,
im ersten
Stock
der Gerichtssaal. Das Gebäude
wurde 1900 teilweise in eine Käserei umgebaut, 1953 renoviert
und dient seither als
Gemeindehaus
von Ernen. Heute wird es auch Tellenhaus
oder fälschlich Zendenratshaus genannt.
.
I. Prozesstag
Dienstag, 14. Februar 1576. Auf Anordnung des Zendenmeiers
und der Geschworenen wird Margaretha Ithen an den auf ihren Rücken
gebunden
Händen über eine
Seilrolle hochgezogen und
befragt. Trotz zweimaliger Wiederholung des Vorgangs weigerte
sie sich die Wahrheit zu sagen. So geschehen in Anwesenheit
des Zendenmeiers und der ehrsamen und weisen Männer Martin Imarnen,
Melchior Zeiter, Mathäus Werlen,
Hans Imsand, Peter Bacher, Simon Gertschen, Martin Kämpfen,
Moritz Jost, Martin Jergen, Hans Blatter und des Notars Martin
Taffiner.
Angewandt wurde die so genannte
Aufzieh-Folter.
Bei dieser Folter hängt das Opfer an den rückwärts
hochgezogenen Armen frei in der Luft. Oft blieb das Opfer
während
der Mittagspause des Gerichts aufgehängt, wenn es nicht vorher
seine Schuld zugab.
2. Prozesstag
Mittwoch, den 15. Februar 1576. Dreimalige Aufziehung und Befragung.
Wieder weigert sie sich die Wahrheit zu sagen,
obwohl
man, während sie an den rückwärts hochgezogenen
Armen in der Luft hängt, sie öfters ruckartig auf und
abschnellt. So geschehen auf Anordnung
des Zendenmeiers und ohne Anwesenheit der Geschworenen.
3. Prozesstag, 1. Teil
Donnerstag, den 16. Februar 1576. Anwesende
gleich wie am ersten Prozesstag. Auf Anordung des Zendenmeiers und der Geschworene
wird sie in einer Wanne gefoltert und gesteht
ihre Taten. Zudem nennt sie Cäcilia Bittel und Klara Inderbinen
als Mitschuldige.
Bei der Wannen-Folter
wird das Opfer in eine Kiste gelegt und um den Bauch festgebunden, wobei
Hände und Füsse aus Öffnungen aus der Kiste ragten. Die
Grösse der Kiste konnte mit Schrauben verändert werden. Bei
dieser Folter konnte man das Opfer durch Zusammenpressen der Kistenwände
erdrücken. Es war aber auch möglich ihm Hände und Füsse
abzureissen. Bei dieser Variante wurden Hände und Füsse mit
Seilwinden verbunden. Für den der nicht gestand, konnten beide
Varianten mit schweren Verletzungen oder tödlich enden. Gemäss
Protokoll gestand Margaretha Ithen, nachdem man ihr Hände und Füsse
"suess" (leicht) gespannt hatte.
In der Folterkammer des Zendengerichtshauses
wurde die Wannenfolter wahrscheinlich nie angewandet. Das Gebäude
wurde erst 1762 fertig gestellt. Zu diesem Zeitpunkt beschränkte
man sich bereits auf "sanftere" Methoden, wie Aufhängung,
Daumenschrauben und Auspeitschung. Wo
vor dem Bau des Zendengerichtshauses Verdächtige
eingesperrt und gefoltert wurden ist unbekannt. Wahrscheinlich gab
es dafür keine speziell gebauten Räumlichkeiten.
3. Prozesstag, 2. Teil und Schluss
Margaretha
Ithen wird vom Notar das inzwischen aufgeschriebene Geständnis
vorgelesen. Sie weigert sich das Geschriebene zu bestätigen.
Deshalb wird sie auf Anordnung des Zendenmeiers nochmals gefoltert.
Dem Protokoll ist zu entnehmen, dass
sie an den auf den Rücken gefesselten Händen wieder über
eine Seilrolle hochgezogen wurde. Diesmal aber mit einem angehängten,
grösseren Stein.
Bei dieser Variante der Aufziehfolter, werden die
Arme aus den Schultergelenken gerissen (daran erkennbar,
dass dem in
der Luft hängenden Opfer, die rückwärts
hochgezogenen Arme senkrecht stehen).
Margaretha Iten bestätigt jetzt, dass alles was aufgeschrieben wurde,
Wort für
Wort richtig ist.
Das Geschworenen erklären sie für schuldig
und ermächtigen den Zendenmeier
ein Urteil zu fällen.
Ferner bestätigen die Geschworenen die Mitschuld der Cäcilia
Bittel und Clara Inderbinen.
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